Schmale Häuser (1): Das angeblich schmalste Haus Berlins

Abweichungen vom Typus erinnern daran, dass es einen Typus gibt. (Diese Erkenntnis ist auch als „Ausnahmen bestätigen die Regel“ bekannt.)

Wie sieht nun der Typus bei der Berliner Mietshausfassade der Gründerzeit aus? Sie ist rechteckig, und zwar in dem Sinne, dass sie zwar höher ist als breit, aber nur ein wenig, auch mal breiter als hoch sein kann, aber auch das nur ein wenig. Durch die meist in der Mitte liegende Haustür erreicht man das ebenfalls in der Mitte liegende Treppenhaus, von dem die Wohnungen zu zwei oder meist drei Seiten abgehen. Die beiden seitlichen Wohnungen sind in der Regel „durchgesteckt“, das heißt sie besitzen Fenster zur Straße und zum Hof. Aus diesem System ergeben sich symmetrische Fassaden mit meist 8 bis 10 Fensterachsen und zwischen 3 und 5 Etagen. Das kleine Haus, um das es hier geht, Müllerstraße 156d im Wedding, hat auch 5 Etagen, aber gerade einmal 2 Fensterachsen, was ihm den (wahrscheinlich unzutreffenden) Ehrentitel „Das schmalste Haus Berlins“ eingebracht hat (so mit der Breitenangabe 4 Meter und 98 Zentimeter in der „Kleinen Berlin-Statistik“ von 1992). 2 Fensterachsen reichen pro Etage nur für 1, zudem jeweils kleine Wohnung, oder für größere Wohnungen auf mehreren Etagen. Im Jahr 1933 beispielsweise wohnen nur 2 Parteien im Haus („Fiedler, M., Bürogehilfe“ und „Richter, W., Glasbläser“).

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Müllerstraße 156d, Berlin-Wedding

Wie eine Normabweichung entsteht

Das Haus kommt zuletzt. Alles andere ist schon da. Es muss sich mit dem wenigen Platz begnügen, der noch vorhanden ist. In diesem Fall war es so, dass das rechts zu sehende große Mietshaus (Müllerstr. 156c) wohl zuerst da war. 1890 stand es schon und gehörte einem Bauunternehmer namens Schmidt, der in der 156a (nicht im Bild) wohnte. Das heute blau gestrichene Haus links (Müllerstr. 157) wurde in jenem Jahr 1890 gerade gebaut. Schon im Folgejahr 1891 wird dann auch das Grundstück unseres Hauses im Berliner Adressbuch mit einer eigenen Hausnummer bedacht – Müllerstr. 156 d. Eigentümer ist die „Baumaterialienhandlung Zänker“. Jener E. Zänker nutzt das Grundstück lt. Adressbuch „zum 1. April 1890“, vielleicht eine Bretterbude, in der er Baumaterialien verkauft? Das heute blaue Haus links, Müllerstr. 157, firmiert 1890 nämlich im Berliner Adressbuch als „Baustelle“. Die „Baumaterialienhandlung“ gibt einen Hinweis darauf, wie die Lücke zwischen den beiden Bauten in den 1890er-Jahren genutzt worden sein könnte, nämlich zunächst als Anlieferungsplatz für Backsteine, Balken, Stuckelemente, Türen usw., die beim Bau umliegender Häuser in der schnell wachsenden Müllerstraße benötigt wurden. Vielleicht wurde sie zu diesem Zweck bewusst als Lücke zwischen den Neubauten belassen? Nach der Fertigstellung der umliegenden Häuser um 1892 wechselt dann ihre Funktion, unter der Adresse wird nun eine Schmiedewerkstatt genannt, sodann ist es vielleicht der Ort für einen Ausschank, da als Eigentümer in den Jahren 1893 und 1894 zwei Gastwirte genannt sind.  Mindestens bis 1895 blieb die schmale Baulücke mit einem vermutlich einstöckigen provisorischen Gebäude bestehen. Dann wechselte erneut der Eigentümer und der boomende Wohnungsmarkt macht selbst aus diesem Restgrundstück offenbar ein gewinnträchtiges Investment. Der neue Eigentümer war der in Charlottenburg wohnhafte „Premierleutnant a.D.“ und Rentier Baron Hermann August von Oppen, geboren 1828. Dieser kümmerte sich jedoch nicht selbst um die Entwicklung des Grundstücks, sondern ließ es von dem „Cigarrenfabrikanten“ O. Reichardt verwalten. Irgendwann in den letzten fünf Jahren des 19. Jahrhunderts wurde das Haus gebaut, denn im Jahr 1900 weist es laut Adressbuch nicht nur einen Eigentümer, sondern erstmals auch einen Bewohner auf:  „Fiedler, M., Bürstenfbrk.“. Baron von Oppen stirbt 1901 und das Hauseigentum geht zunächst an seine Witwe Wilhelmine „Willy“ von Oppen (geb. von Salisch, 1849–1931) über. Sie verkauft die Mikroimmobilie bald an die Verwalterfamilie, die Zigarrenfabrikanten Reichardt. Noch 1943 gehörte das Haus den „Reichardt’schen Erben“ und der „Behördenangestellte“ O. Reichardt ist als Vertreter der Familie im Haus wohnhaft.

Nach dem 2. Weltkrieg bleibt zumindest der Bezug zur Zigarre erhalten. Noch 1967 findet sich hier eine Filiale der Krüger & Oberbeck GmbH, einem Tabakhändler mit damals deutschlandweitem Filialnetz. Spätestens 1977 ist im Erdgeschoss dann ein anderer Genußmittelverkauf untergebracht – eine italienische Eisdiele. Diese ist hier bis heute zu finden. In kleinen Häusern tut sich offenbar weniger – die Räume sind nicht flexibel genug, um allzu häufig neue Nutzungen unterzubringen.

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