Der Architekt Helmut Jahn ist gestern im Alter von 81 Jahren bei einem Fahrradunfall ums Leben gekommen. Er war nicht nur der Architekt von Megastrukturen wie dem Thompson Center in Chicago oder dem Sony Center am Potsdamer Platz, und von zeichenhaften, unverwechselbaren Hochhäusern wie dem Messeturm in Frankfurt am Main, sondern auch eines schmalen Hauses am Kurfürstendamm, das er noch vor dem Mauerfall geplant und in den frühen 1990er-Jahren gebaut hat. Wie viele andere Bauten von Jahn ist es im Bemühen entstanden, zwar das Erbe der Moderne dezidiert weiterzuführen, aber ihren oft stereotypen, langweiligen Lösungen zu entkommen. Jahn hatte weder mit seinen Bauten noch als Mensch ein Problem damit, aufzufallen.

Wie aber kam es zu diesem schmalen Haus, das aufgrund seines Verhältnisses von kleiner Grundfläche und großer Höhe durchaus in Jahns hochhausgeprägtes Oeuvre passt?
Das Gebäude steht auf einem nur 2,70 Meter breiten Streifen. Das reicht immerhin für die Tür, die in ein Foyer führt, hinter dem dann der durchaus geräumige Aufzug liegt. Durch das weite Auskragen der Obergeschosse erreicht der Architekt dort eine erstaunlich große Nutzfläche.

Obwohl die gängige Traufhöhe des Kurfürstendamms nur um ein paar Meter überschreitet, ist der Bau doch in seinen Proportionen, im Verhältnis der Höhe zur Grundfläche, ein Hochhaus. Die Schmalseite am Kudamm ist erstaunlich plastisch, abwechslungsreich und dynamisch, die breite gläserne Vorhangfassade zur Lewishamstraße lässt nicht ahnen, wie wenig Tiefe sich dahinter verbirgt. Über die Ecke ragt eine Spitze mit rundem Signet weit hinaus – vielleicht eine kleine Reminiszenz an den Kudamm, wie ihn das Neue Bauen der 1920er-Jahre erträumte aber kaum umsetzen konnte – vom fahrenden Auto aus zu erleben, mit dynamisch gerundeten Häuserecken, nachts erleuchteten Fassaden und großstädtischer Reklame, mit Stahl und Glas statt Stuck und Sandstein.

Bis zur Zerstörung im Krieg, also bis etwa 1943 oder 1944, stand unter der Adresse Kurfürstendamm 70 eines der üblichen großen, breitgelagerten Eckhäuser des späten 19. Jahrhunderts – in Stil und Proportionen sicher ähnlich wie der noch heute vorhandene linke Nachbar von Jahns Gebäude. Die rechts an Jahns Turmbau vorbeirauschende, breite Lewishamstraße gab es nicht. Stattdessen traf hier nur die wesentlich schmalere Wilmersdorfer Straße von Nordwesten, also von schräg rechts, auf den Boulevard. In den 1960er-Jahren wurde durch das vom Luftkrieg zerlöcherte Quartier nördlich des Kurfürstendamms die neue Lewishamstraße gefräst. Durch diese neue Schneise entstand eine Verbindung zum nunmehr untertunnelten Bahnhof Charlottenburg und von dort weiter nach Norden. Die neue, verbreiterte und als „Adenauerplatz“ benannte Straßenkreuzung am Kurfürstendamm sollte aber keine traditionelle Kreuzung bleiben. Im Sinne einer Stadt, die dem Auto endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte und sich deshalb „autogerecht“ nannte, wurde der Boulevard hier untertunnelt. Der gekachelte, dreispurige und 260 Meter lange Tunnel wurde 1972 eröffnet.

Das alte Grundstück Kurfürstendamm 70 war somit Anfang der 1970er-Straße unter einer Durchgangsstraße mitsamt Tunnel verschwunden. Doch ein schmaler Streifen des alten Grundstücks war übriggeblieben, was wohl spätestens in den 1980er-Jahren aufgefallen sein muss. Jahn erhielt den Auftrag für den Bau des schmalen Hauses nach einem Wettbewerb, der noch in Zeiten der geteilten Stadt, in den 1980er-Jahren, stattfand. Dessen Gewinnerin war zunächst Zaha Hadid, deren Entwurf allerdings gegen das Bauordnungsrecht verstieß (so Amelung 1996). Ihr Entwurf zweier sich dies- und jenseits der Lewishamstraße gegenüberstehender Segelbauten wird bis heute als Poster vermarktet.
Helmut Jahn hat mit seinem Bau lange vor der Ära der Lücken- und Restgrundstücksbebauung vorgeführt, wie man aus einer schwierigen Grundstückssituation künstlerisch und wirtschaftlich Kapital schlagen kann.

Literatur
Volker E. Amelung: Gewerbeimmobilien. Bauherren, Planer, Wettbewerbe, Berlin/Heidelberg 1996, S. 159, Anm. 71
Piotr Pawlowski: Das Geschäftshaus Ku’damm 70, Berlin von Helmut Jahn, Mag.-Arbeit FU Berlin 2000
Peter M. Bode: „56 Quadratmeter Berlin genügen für ein Hochhaus. Helmut Jahn baut am Kurfürstendamm“, in: Art 9 (1994), S. 129
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