Kleine Häuser (12): Das Achteck für eine saubere Stadt

Am Beginn stehen das erwachende Schamgefühl und die wachsende Großstadt. Die Industriedesignerin Bettina Möllring schreibt in ihrer Dissertation über die Gestaltungsgeschichte von Toiletten: „Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde vor allem das Urinieren im öffentlichen Raum zunehmend als störend empfunden. Die Abneigung dagegen bezog sich weniger auf die Verschmutzung oder die daraus resultierende Geruchsbelästigung, sondern auf den Anblick der körperlichen Handlungen“ (Moellring 2004, S. 96). Die Männer waren das Problem, denn Frauen seien, so Moellring, damals darauf trainiert gewesen, in der Öffentlichkeit „allen körperlichen Regungen […] widerstehen zu können“ (ebd.). Dementsprechend seien lediglich „Beschwerden über urinierende Männer […] zahlreich“ gewesen.

Metzer Straße / Ecke Schönhauser Allee, Berlin-Prenzlauer Berg, 2019

Zunächst versuchte man es mit Verbotsschildern, doch diese blieben wirkungslos. Der Drang war stärker als das Gebot. Zuerst in Paris wurden deshalb seit etwa 1840 die sogenannten „Vespasiennes“ aufgestellt, öffentliche Pissoirs mit einfachen Sichtblenden, die nur das eigentliche Geschehen verdeckten, Kopf, Beine und Füße hingegen sichtbar ließen. Auch in London war man Berlin voraus, dort war bereits 1861 „für öffentliche Urinir-Anstalten […] fast überall genügende Vorsorge getroffen“, wie der Berliner Kanalisationsexperte Eduard Wiebe damals anerkennend schrieb. Seit 1863 folgte auch Berlin dem internationalen Trend: Urinale wurden dann auch in Berlin an mehreren Stellen in der Stadt aufgestellt. Und dies in serieller Fertigung: Von einer ersten Generation der Berliner Urinale wurden bis 1876 immerhin 56 Stück in der Stadt platziert.

Ein Vorläufer: Dreiständige Vespasienne in der Avenue du Maine in Paris, Foto von Charles Marville, um 1865
(Foto aus der State Library of Victoria, Australien, public domain)

Was wir hier sehen ist die zweite Generation von 1878, nach dem Entwurf des Stadtbaurats Carl Theodor Rospatt mit dem allzu humorigen, auf die grüne Farbgebung anspielenden Titel „Waidmannslust“. Dieser Entwurf war eine Folge des Erfolgs der ersten Urinal-Generation, wie es in dem Buch mit dem Titel „Das Klo“ von 2000 heißt: „Diese Anlagen erfreuten sich im Allgemeinen so großer Popularität, daß die Verwaltung sich 1877 entschloss, geräumigere, siebenständige Anlagen aufzustellen, auf achteckigem Grundriß. […] Überwiegend wurden diese Anlagen von der Firma Rössemann & Kühnemann errichtet.“ Diese Firma war spezialisiert auf Eisenbauten, die aus einzelnen, vorgefertigten Platten zusammengesteckt werden konnten – ein System, das auch hier zur Anwendung kam und die Vervielfältigung des Baues erleichterte.

2019

Die vom entwerfenden Architekten, dem Stadtrat für Tiefbau Carl Theodor Rospatt, gefundene Form war ebenso simpel wie genial. Statt ein rechteckiges Gebäude mit einer geraden Urinwand zu bauen, an der die Männer einfach nebeneinander gestanden hätten, knickte er die Urinwand achtmal. So entstand ein Typus, in dem jeder Urinierende ein Minimum an Privatsphäre erhielt, platzsparend und effizient. Zugleich entstand statt einer bloßen Pinkelbude ein Gebäude, ja Architektur. Die neue Bauaufgabe wurde, wie zuvor im Historismus schon der Bahnhof, der Wasserturm oder das Museum, in ein historisierend-nobilitierendes Kleid (samt antikischem Dekor) gesteckt, in diesem Fall das Oktogon. Wie stark diese Form als Hauptcharakteristikum des Baues empfunden wurde, zeigt die volkstümliche Bezeichnung der Berliner Urinale als „Café Achteck“.

Oktogonale Bauwerke haben in der Architekturgeschichte eine lange Tradition, beispielsweise bei Kaiser Nero als kommunikationsfördernder Speisesaal in seiner Domus Aurea in Rom, im mittelalterlichen Italien als Taufkirche oder als alle Themen gleichwichtig erscheinen lassender Bibliotheksaal im 19. Jahrhundert. Berlins bekanntestes Oktogon ist der Leipziger Platz. Für den Kunsthistoriker Jacob Burckhardt war der Hauptvorteil des Oktogons als Bauform die „Einheit des Lichtes“. Gleichmäßig fällt es auch im Café Achteck von oben ins Innere und macht die nicht denkbaren Fenster auch funktional überflüssig. Die grüne Farbgebung sollte vermutlich der relativen Unauffälligkeit des Bauwerks dienen – was besonders bei der Aufstellung am Rand von Grünanlagen wie am Senefelder Platz sehr gut funktionierte.

Als Carl Theodor Rospatt 1901 im Alter von 70 Jahren starb, erschien ein Nachruf in der Deutschen Bauzeitung. Darin wurde keineswegs die Urinale als Hauptleistung des früheren Stadtbaurats hervorgehoben. Stattdessen wurde er als Vater des Berliner Straßenpflasters gefeiert: „Wenn Berlin, das sich bei seinem Amtsantritt in der Beschaffenheit seines Pflasters kaum von einem kleinen Landstädtchen unterschied, in einem Jahrzehnt nach dem Uebergange der Strassen in städtischen Besitz schon zu den best gepflasterten und gehaltenen Städten der Welt gehörte, so ist das ohne Zweifel zum nicht geringen Theile das Verdienst des Verstorbenen, der die Grundsätze für eine sachgemässe Ausführung und Unterhaltung der Strassen aufstellte, die heute noch im wesentlichen gültig sind“ (Deutsche Bauzeitung, Heft 3, 1901, S. 164). Doch bestand zwischen der Pflasterung der Straßen und der Errichtung öffentlicher Urinale ein enger Zusammenhang: „Erst nachdem die Straßen größtenteils gepflastert waren und regelmäßig gesäubert wurden, war die Errichtung von Pissoirs und Bedürfnisanstalten eine der letzten Maßnahmen, die öffentlichen Räume zu reinigen.“ (Moellring 2004, S. 96)

Innenraum, 2020
Innenraum, 2020

Literatur

Eduard Wiebe: Über die Reinigung und Entwässerung der Stadt Berlin, Berlin 1861, S. 105f.
Ernst Friedel/Oskar Schwebel: Bilder aus der Mark Brandenburg vornehmlich der Reichshauptstadt, Leipzig 1881
Berlin und seine Bauten, Bd. I, Berlin 1896, S. 483, 559
Hilmar Bärthel: Tempel aus Gusseisen. Urinale, Café Achteck und Vollanstalten, in: Berlinische Monatsschrift 11 (2000)
Rolf Giesen / Klaus Dieter Weiß: Das Klo. Schmutz wird durch Poesie erst schön, Berlin 2000, S. 47–56
Bettina Moellring: Toiletten und Urinale für Frauen und Männer, Dissertationsschrift TU Berlin 2003
Vittorio Magnago Lampugnani: Bedeutsame Belanglosigkeiten; kleine Dinge im Stadtraum, Berlin 2019, S. 29–36

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